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Dienstag, 16. Februar 2016



Dienstag, 12. Januar 2016


Freitag, 29. Januar 2016 um 22:05:43 von Kulturpool Redaktion

Wörter und Sachen - Linguistische Objets trouvés

Anlass
Ausstellung: Digitalisierung der Sammlung Schuchardt aus dem Österreichischen Museum für Volkskunde

Vor über einem halben Jahrhundert wurde ein schöner alter Reisekoffer aus Graz an das Volkskundemuseum in Wien überstellt (siehe Abbildung). "Bei Aufräumarbeiten im Keller der Universitätsbibliothek Graz“, so die kurz davor verschickte Ankündigung, „wurden eine größere Menge Fischereigeräte und andere Gegenstände aus dem Nachlaß des 1927 verstorbenen Sprachforschers Hugo Schuchardt gefunden. Die Sachen sind europäischer Herkunft und dürften somit in Ihr Sammelgebiet fallen. Wenn Sie einverstanden sind, würden wir Ihnen das Material auf unsere Kosten übersenden und geschenkweise überlassen."

Einer der Reisekoffer, in denen die Objekte der Sammlung Schuchardt 1959 von Graz nach Wien transportiert wurden

Die „größere Menge Fischereigeräte“, die so in den Besitz des Museums gelangten, wurden nun digitalisiert und sind seit Kurzem auch online - hier auf kulturpool.at sowie auf der Website des Museums (http://www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/oemv74074_001) - allgemein einzusehen.

Wirft man bloß einen naiven Blick auf die zahlreichen Fotos der Fischereigeräte und anderer Gegenstände aus dieser Sammlung, ist man sofort fasziniert von der Schönheit dieser einfachen Objekte, die der Linguist Hugo Schuchardt (1842-1927) im Zuge seiner ethnografischen Sprachforschung über viele Jahre zusammengetragen hat. Die Fotografien dieser Objekte würden in Großformaten in jeder Galerie für Aufmerksamkeit sorgen. Aus ihrem Kontext gerissen könnten die kunsthandwerkliche Arbeits- und Gebrauchsgegenstände auch als Objets trouvés Furore machen.

Reuse (links) und Spinnwirtel (rechts) aus der Sammlung Hugo Schauchardt des Österreichischen Museums für Volkskunde

Der Sammler dieser Objekte war die wahrscheinlich interessanteste und nachhaltigste Figur der Geschichte der Sprachwissenschaft in Österreich. Er lehrte an der Universität Graz von 1876 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1900 und blieb dort und in zahlreichen Akademien bis zu seinem Tod 1927 wissenschaftlich außergewöhnlich aktiv. Unter dem heute wieder stark in den Blickpunkt geratenen Titel „Sachwortforschung“ bildeten Etymologien und Kulturforschung einen der roten Fäden in seinem umfangreichen Werk. Und dies macht die Sammlung auch aus wissenschaftlicher Perspektive hoch interessant. Denn seit Schuchardt, der insbesondere anhand des Fischfangs und des Getreidebaus zu zeigen versucht hat, dass Wortgeschichte nicht sinnvoll ohne Sachgeschichte getrieben werden könne, gilt die Verbindung von Realienkunde mit linguistischer Forschung als selbstverständlich.

Fischernetze aus der Sammlung Hugo Schuchardt des Österreichischen Museums für Volkskunde 

Gemeinsam mit Rudolf Meringer verfasste Schuchardt im Jänner 1908 ein Manifest, in dem sie (wie Elisabeth Egger und Susanne Oberpeilsteiner in einem Beitrag zu den im Frühjahr erscheinenden ‚Grazer Linguistischen Studien‘ schreiben) festhielten, "daß die Sprachforschung der Sachforschung als notwendiger Ergänzung bedarf". Eine eigene Sektion "sachliche Volkskunde" solle, so Schuchardt und Meringer, "die Forschungen über die 'Urbeschäftigungen' (Ackerbau, Fischerei, Hirtenwesen), über das Haus und seine Geräte sowie über die im Hause geübten Techniken (Nähen, Spinnen, Flechten, Weben u.s.w.) zum Gegenstande ihrer Verhandlungen machen.“

„Sprachforscher“, schrieb Schuchardt 1904 in seinem Aufsatz „Zur Methodik der Wortgeschichte“, „die wie ich ihre Wissenschaft als einen Zweig der Völkerkunde, freilich den wichtigsten betrachten, finden sich durch den Besuch ethnographischer Museen in ganz eigentümlicher Weise angeregt und erleuchtet. Wir bekommen da nicht, wie jemand scherzen möchte, nur undeklinierte Substantive zu Gesicht; auch in Ruhendem werden Tätigkeiten bis zu einem gewissen Grade veranschaulicht.“ Und das heißt, dass insbesondere durch die Ethnographie eine unentbehrliche Grundlage für die philologische Arbeit geschaffen werde; dass die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Wörtern und den von ihnen bezeichneten Gegenständen und Sachverhalten für die Sprachwissenschaft aufschlussreicher seien, als der von Schuchardt kritisierte „Atomismus“ der sogenannten Junggrammatiker (Linguisten der „Leipziger Schule“), die sich bei ihrer Forschung vor allem auf die Laute einer Sprache konzentrierten.

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„Wie einem Sein oder Geschehen der Satz, so entspricht einer Sache das Wort; nur ist die Beziehung nicht umkehrbar. Ich kann fragen: wie heißt die Sache? Ich muß fragen: was bedeutet dieses Wort? Die Sache besteht für sich voll und ganz; das Wort nur in Abhängigkeit von der Sache, sonst ist es ein leerer Schall. Die Etikette an einer Pflanze oder an einer Weinflasche kann mich nichts lehren, wenn sie von dem Platze, an dem sie befestigt war, sich verirrt hat; die Pflanze und der Wein sind auch ohne Etikette einer gründlichen Erkenntnis zugänglich; der Spruch: ‚Nomina si nescis, perit et cognitio rerum‘, von Linne mit gutem Grunde zitiert, gilt nur in einem beschränkten Sinne. Also im Verhältnis zum Wort ist die Sache das Primäre und Feste; das Wort ist an sie geknüpft und bewegt sich um sie herum.“ (Hugo Schuchardt: „Sachen und Wörter“, 1912)
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Von vielen Gegenständen, die in seinen Veröffentlichungen eine Rolle spielten, legte Schuchardt sich daher kleine Sammlungen an und studierte bzw. probierte deren Funktionsweisen, so z.B. von Spindeln, Haspeln, Dreschflegeln und Fischereigerät und Fischnetzen. In seiner Grazer Villa war sogar ein Raum als Fischereimuseum eingerichtet gewesen. Die Objekte wurden ihm von wissenschaftlichen Korrespondenzpartnerinnen und -partnern zugesandt, von Freunden überbracht oder er nahm sie selbst von seinen Reisen mit. Die Gegenstände selbst waren somit Teil eines Netzwerkes wissenschaftlichen Arbeitens. Nach seinem Tod ging dieser Bestand testamentarisch an die Universitätsbibliothek Graz und wurde 1959 als Geschenk dem Wiener Volkskundemuseum vermacht. Nun sind die bislang im Depot schlummernde Objekte, die lange nur singulär und reduziert als Vertreter ihrer Sachgruppe betrachtet wurden, dank Digitalisierung wieder als Wissensspeicher lesbar und einer breiteren interessierten Öffentlichkeit zugänglich.

Reuse (links) und Stülpkorb (rechts) aus der Sammlung Hugo Schuchardt des Österreichischen Museums für Volkskunde

Die unter der Leitung von Elisabeth Egger erstellte Webedition der Sammlung liefert zusätzlich zu den beschreibenden museologischen Daten aller Objekte umfangreiche Verlinkungen zu den in der Webedition des Hugo-Schuchardt-Archivs der Universität Graz (http://schuchardt.uni-graz.at/) editierten Korrespondenzen und Publikationen. Somit wurden die verschiedenen Teile des Schuchardt-Nachlasses virtuell wieder zusammengeführt und rekontextualisiert, was bei der weiteren Aufarbeitung des wissenschaftlichen Œuvres Schuchardts aus Netzwerkperspektive einen erheblichen Erkenntnisgewinn verspricht.