Der Penis, der da (nicht) hingehort
![]() | Anlass Das Plakatsujet des Life Ball 2014 |
„Wie kommen ganz normale Bürger dazu, uns so was anschaun zu müssen“, empören sich in den letzten Tagen unzählige Poster auf diversen Online-Plattformen. „So was“, das ist ein Foto des amerikanischen Kitsch-Pop-Surrealisten Dave LaChappelle. Es zeigt das Transgender-Model Carmen Carrera unter dem Motto "Ich bin Adam - Ich bin Eva - Ich bin ich" nackt in einem "Garten der Lüste" - und zwar sowohl mit männlichen als auch weiblichen Geschlechtsteilen.
Der durch seine Auseinandersetzung mit Themen wie Spiritualität und Religion, Personenkult und Körperlichkeit sowie mit der Hinterfragung gesellschaftlicher Normen von Geschlecht und Sexualität bekannt gewordene Fotograf lieferte damit das Sujet für das Werbeplakat des Life Ball, der am 31.Mai zum 22.Mal in Wien über die Bühne geht.
Erregte BürgerInnen und PolitikerInnen glauben darin eine „sittliche Gefährdung samt Irreleitung des Geschlechtstriebes“ (FPÖ-Familiensprecherin Anneliese Kitzmüller) zu erkennen und beschwören wieder einmal den drohenden Untergang des christlichen Abendlandes. Obwohl „so was“ seit der Antike immer wieder Gegenstand künstlerischer Darstellung ist.
„So was“ steht zum Beispiel seit 1932 unbescholten mitten in einem öffentlichen Park in Stratford-upon-Avon; „so was“ ist in unzähligen Varianten in fast allen europäischen Museen zu sehen, im Paris Louvre ebenso wie in den Kapitolinischen Museen in Rom, im Amsterdamer Rijksmuseum oder im Kunsthistorischen Museum in Wien. Und seit Jahrhunderten auch an der Kathedrale von Modena, einem der bedeutendsten romanischen Baumwerke Europas: In einer Darstellung, die heute - auf einem öffentlich achifierten Plakat - sensible Passanten nach dem Staatsanwalt rufen lassen würde: Ein Hermaphroditus oder eine Hermaphrodite mit üppigem Busen und gespreizten Beinen, die dem Blick auf Penis und Hoden lenken. Dorthin, wo diese Geschlechtsteile ihrer Meinung nach nicht hingehören.
Darstellung eines Hermaphroditen an der Kathetrale von Modena
Hermaphroditen in der Kunst: Auswahl von Darstellungen
In anderen Kulturen und Religionen werden Intersexuelle (oft zusammen mit Transgender-Personen) als Angehörige eines dritten Geschlechts betrachtet, wie die Two-Spirit vieler nordamerikanischer Indianerstämme, indische Hijras, die Khanith Omans oder thailändischen Katoys. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war in der thailändischen Gesellschaft eine dreipolige Geschlechtereinteilung in männlich, weiblich und kathoey (‚Zwitter‘) verbreitet. Auch in einigen buddhistischen Ursprungsmythen werden drei originäre Geschlechter genannt. Erst in den 1950er-Jahren hielt eine westlich beeinflusste, von Biomedizin geprägte Sicht auf Geschlechterkategorien einzug. Das von der westlichen Kultur abweichenden Geschlechtermodell, das es bei vielen alten nordamerikanischen Indianerstämmen gegeben hat (Two-Sprits bedeutet, dass „zwei Seelen“ in einem Körper vereint sind), fiel schon viel früher dem Kolonialismus zum Opfer. Two-Spirits nahmen oft die Position von Schamanen ein. Weil sie beide Geschlechter in sich vereinigten, hätten sie eine direktere Verbindung zum geschlechtslosen Göttlichen. Intersexuellen und transgender Menschen wird etwa das Potenzial übernatürlicher Wahrnehmung zugeschrieben, sie sind verantwortlich für Heilungen und Rituale.
Auch in den buddhistischen und hinduistischen Hochkulturen finden wir intersexuelle Gottheiten. Die bekannteste ist Bodhisattva Avalokiteshvara, Gottheit des Mitgefühls (japan. „Kannon“). Auch hier wird das Transzendieren der Geschlechtergrenzen als spirituelle Überwindung der Dualität interpretiert. Obwohl Bodhisattvas, da in ihnen alle Gegensätze als überwunden gelten, eigentlich keine Geschlechtszugehörigkeit haben und es auch in den kanonischen Texten des Buddhismus keine Hinweise auf weibliche Bodhisattvas gibt, haben sich in China, Vietnam und Japan auch weibliche Darstellungen Avalokiteshvaras (Guanyin, Quan-âm, Kannon) entwickelt und hohe Popularität erlangt.
Dave LaChappelles Spiel mit kunsthistorischen Referenzen Links: Ausschnitt aus dem Foto für das Life Ball Plakat. Rechts: Detail aus dem Tryptichon "Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (ca.1450-1516)