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Eine kleine Geschichte der Begegnungszone

Anlass
Anlass: Die Neugestaltung der Wiener Mariahilferstraße

Begegnungszone auf der Wiener Mariahilferstraße anno 1783: Die kolorierte Umrissradierung von Johann Ziegler (1749-1802), einem der bedeutendsten Vedudisten Wiens, erinnert daran, dass bis zur Einführung des Automobils der Shared Space in europäischen Städten so selbstverständlich war, dass dafür noch gar kein besonderer Begriff existierte. Der Mischbetrieb ohne Segregation prägte das Leben auf den Straßen: Fußgänger, Reiter und Fuhrwerke teilten sich den öffentlichen Raum.

Begegnungszone Mariahilferstraße anno 1783: Fußgänger, Reiter und Fuhrwerke teilten sich den öffentlichen Raum (Vedute von Johann Ziegler; Albertina)

Zwar erhielten viele Städte schon im 17. Jahrhundert gepflasterte Gehwege, nicht aber, um Fußgänger vom übrigen Verkehr zu trennen, sondern damit das Bürgertum nicht im Schmutz der Rinnsteine und auf den bei Regen schlammigen Straßen gehen musste. Der Bürgersteig war bei schönem Wetter lediglich eine Alternative zum oft noch ungepflasterten übrigen Straßenraum.

Der Segregationsgedanke entwickelte sich erst mit dem wachsende Verkehrsaufkommen in der Großstädten und mit dem Aufstieg des Automobils. Seine Manifestierung fand er schließlich 1933 in der Charta von Athen, die unter Federführung des Schweizer Stadtplaners Le Corbusier (1887-1965) anlässlich des IV. Internationalen Kongresses für neues Bauen verabschiedet wurde, der sich unter dem Thema Die funktionale Stadt mit den Aufgaben einer modernen Siedlungsentwicklung beschäftigte. Le Corbusier und seine Mitstreiter betrachteten die bis dahin übliche Mischung der Verkehre als Behinderung für die wirtschaftliche Entwicklung der Städte.

Wien anno 1758: Freyung, Mehlmarkt (heute: Neuer Markt) und Universitätsplatz (heute: Dr.-Ignaz-Seipel-Platz): Straßen und Plätze ohne Segregation des Verkehrs (Veduten von Bernardo Bellotto, gen. Canaletto; Kunsthistorisches Museum Wien)

Flächendecken umgesetzt wurde die Segregation aber erst - ausgehend von einer vielfach zerstörten Verkehrsinfrastruktur - nach dem Zweiten Weltkrieg. Die städtebaulichen Leitbilder der 1950er und der 1960er Jahre („Die autogerechte Stadt“) sind zu großen Teilen aus der Charta von Athen abgeleitet. Angestrebt wurde ein Verkehrsnetz mit breiten Hauptstraßen für den Schnellverkehr sowie Nebenstraßen für Zubringer- und Langsamverkehr. Durch klare Flächentrennung und einer Nutzungsentmischung sollte der ungehinderte Verkehrsfluss des Autos gewährleistet werden. Die damit einhergehende Unterordnung nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer wurde durch Maßnahmen wie Absperrungen und Fußgängerunter- oder Fußgängerüberführungen verdeutlicht.

Opernpassage Wien (1955) - Die "moderne" Lösung für die Verkehrssekregation: Fußgänger werden eine Ebene tiefer verbannt, um den automobilen Verkehr auf Straßenniveau nicht zu behindern

Mit der heute unter Denkmalschutz stehenden Opernpassage (Architekt Adolf Hoch), die 1955 eröffnet wurde, war Wien sogar ein Vorreiter der Fußgängerversenkung in andere Raumebenen (erst zwei Jahre später entstand in Bielefeld die erste Fußgängerunterführung Deutschlands). Das Fahrrad spielte bei den Überlegungen zur autogerechten Stadt zunächst überhaupt keine Rolle; erst später wurde der Segregationsgedanke auch auf dieses Verkehrsmittel ausgeweitet: Zur Fahrbahn und zum Bürgersteig kam der Radweg (zunächst meist auf Kosten der Gehsteige).

Ein generelles Umdenken setzte erst Mitte der 1980er Jahre ein. Straßenräume wurden neu konzipiert und die Funktionstrennung entweder neu interpretiert (Verlegung von Radwegen auf die Straße) oder gänzlich in Frage gestellt. Nicht nur, weil die Trennung der Verkehre die Unfallgefahr nicht reduzierte, sondern mitunter sogar erhöhte, weil die Segregation eine Kanalwirkung erzeugt, die das Tempo der Fahrzeuge erhöht. Basierend auf der Kulturtheorie des Risikos wurde nun argumentiert, dass eine Reintegration des nichtmotorisierten und öffentlichen Verkehrs der Kanalwirkung entgegenwirkt. Denn, so die These, die Überregulierung des Verkehrs, in der - theoretisch - jedes Verhalten mit Verkehrsschildern, Markierungen, Ampeln und getrennten Verkehrsflächen genormt wird, entmündigt die Verkehrsteilnehmer, führt zur Ellbogenmentalität und fehlender Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Während die „gewollte“ Unsicherheit, die die Aufhebung der Segregation erzeugt, alle Verkehrsteilnehmer zu vorsichtigem und sondierendem Verhalten - inklusive einer deutlichen Temporeduktion - zwingt.

Begegnungszone Mariahilferstraße 1783 (links in einer Vedute von Johann Ziegler) und 2014 (rechts nach den Entwürfen des holländischen Bureau B+B urban planning and landscape architecture, Amsterdam)

Diese Ansätze wurden - zunächst in Holland - zur Idee des Shared Space (auf deutsch begrifflich etwas unglücklich "Begegnungszone") weiterentwickelt. Statt einer dominanten Stellung des motorisierten Verkehrs soll der gesamte Verkehr mit dem sozialen Leben sowie der Kultur und Geschichte des jeweiligen Stadtraums (wieder) im Gleichgewicht stehen. Durch Entfernen der Kanalwirkung der Straßen sollen die Orte wieder Persönlichkeit erlangen, Verkehrsteilnehmer und Nutzungen gleichwertig nebeneinander existieren und sich alle den Raum teilen. Nicht nur um die Verkehrssicherheit, sondern auch um die Lebensqualität der Anwohner und Besucher zu erhöhen.

Nicht nur in Wien, auch in vielen anderen Städten ist dieses „neue“ Verkehrskonzept zunächst auf großen Widerstand gestoßen; nicht bloß aus egoistischem Interesse einzelner Verkehrsteilnehmer, sondern weil die Entwicklung der Massenmotorisierung seit den 1960er Jahren im gesellschaftlichen Bewusstsein eine Assoziation des Verkehrs mit einer Gefahrensituation induzierte, sodass viele Menschen den Shared Space verglichen mit dem Verkehrskonzept der Segregation als gefährlich empfinden. Nicht ganz zu Unrecht, weil unser Verkehrsverhalten (das der Fußgänger ebenso wie das der Auto- und Radfahrer) durch die mittlerweile ein halbes Jahrhundert praktizierte strikte Trennung geprägt ist.

Mariahilferstraße anno 1935 (links): Noch gehörte den Fußgängern die ganze Straße Mariahilferstraße anno 1954 (rechts): Die Disziplinierung der Fußgänger beginnt mit appellativen Zebrastreifen

Das Funktionieren von Begegnungszonen bedarf daher einer „kulturellen“ Umprägung. Und die ist nicht in wenigen Wochen zu bewerkstelligen. Auch das richtige Verhalten auf segregierten Straßen mussten die Menschen, die den zuvor herrschenden „Verkehrsmischbetrieb“ gewohnt waren, einst erst lernen. Auch davon zeugen historische Bilder der Mariahilferstraße aus den Archiven der Österreichischen Nationalbibliothek.